Über all die Jahre hinweg hatte "Urmel", mein etwa 20 Jahre altes Maurisches Landschildkröten-Weibchen, zwei oder mitunter auch drei Gelege mit stets vier bis acht Eiern abgesetzt. Doch  dieses Jahr war es anders: fiel das erste Gelege vom 16. Juni mit sechs Eiern normal aus, überraschte mich "Urmel" mit ihrem zweiten Mini-Gelege drei Wochen später. Es bestand nämlich nur aus zwei Eiern, die ungleicher nicht sein konnten: einem Ei, das 24 g wog und dem zweiten, das gerade mal 4 g auf die Waage brachte, siehe Bild.

Das zweite Gelege von "Urmel", hier im Vergleich mit einer 1-Cent-Münze (= 10 mm Durchmesser).


Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen zu sehen, was für eine Mini-Schildkröte aus dem winzigen Ei schlüpfen würde, auch wenn es mich schon irgendwie interessiert hätte. So öffnete ich das kleine Ei am anderen Tag - es war im Innern völlig unverdächtig.
Text und Bild von Horst Köhler (20. Juli 2013)

 

 

 

 

Es scheint sich langsam etwas zu bewegen, was die vorsichtige Neubewertung bis hin zur kritischen Beurteilung einiger jahrelang üblicher Pflegepraktiken bei europäischen Landschildkröten betrifft. Einige Beispiele: als ideale Maßnahmen wurden - und werden noch immer - komplette Gärten für die Haltung von nur drei oder vier Schildkröten propagiert, maximale Haltungstemperaturen von 45 °C und sogar noch mehr unter dem Wärmespot empfohlen und in Zimmerterrarien bzw. Glas-Gewächshäusern mit UVB-Lampen kurzzeitbestrahlt, deren Strahlungsintensität teilweise die der direkten Äquator-Sonne im Sommer zur Mittagszeit entspricht.

Schon in meinem im letzten Jahr erschienenen Buch „Aufzucht europäischer Landschildkröten-Babys" (siehe Rubrik „Schildi-Buch") habe ich aufgezeigt, dass, wann und wie Schildkröten verschiedener Gattungen im Sommer die Sonne zur heißesten Tageszeit konsequent meiden und sich in schattige Bereiche zurückziehen (vorübergehende Aestivation); dies erfolgt vor allem in den natürlichen Lebensräumen der Tiere. Und zwar scheint die Suche nach Schattenplätzen bei den von mir untersuchten Gattungen immer dann ausgelöst zu werden, sobald die Carapax-Temperatur einen Wert von rund 32 °C übersteigt. Warum also in einem Teilbereich eines Terrariums für Temperaturen von 45 °C sorgen, vor allem angesichts der heutigen Stromkosten? Natürlich ist damit nicht gemeint, dass die Tiere bei zu niederen Temperaturen gehalten werden dürfen.

In diversen neueren Publikationen, vor allem aber in der Rubrik „Fachartikel" dieser Website, habe ich außerdem in den letzten Monaten über die Ergebnisse meiner UVB-Strahlungsmessungen im natürlichen Verbreitungsraum berichtet. Diese Studien erfolgten quasi direkt am Tier in dessem Mikrolebensraum über mehrere Stunden, in einigen Fällen sogar über einen ganzen Tag hinweg. Das Ergebnis: Landschildkröten „tanken" die UVB-Strahlung an einem ganz normalen Schönwetter-Tag nicht innerhalb eines kurzen Zeitraumes von nur 1 Stunde oder gar nur 30 Minuten, wie dies mitunter im Terrarium durch den Pfleger erfolgt, sondern praktisch unbewusst über den gesamten Tag in relativ kleinen „Dosen", auch während der Phasen der Hitzeruhepausen im Gebüsch, durch das trotzdem immer auch ein schmaler Lichtstrahl und damit etwas UVB dringt. Die tatsächliche Gesamt-UVB-Dosis während eines sonnigen Sommertages im Habitat europäischer Landschildkröten wird immer noch deutlich überschätzt: nach meiner Auffassung muss man zur UVB-Versorgung von Landschildkröten keine UV-Strahler mit 300 W Leistung einsetzen.

Nun aber zum Punkt Ernährung: schon seit Jahren habe ich bei meinen Schildkröten-Exkursionen in südeuropäische Vorkommensgebiete immer wieder beobachtet, wie viele auf den Boden gefallene Früchte, Beeren und auch Tomaten von Landschildkröten gefressen werden, wenn sie entsprechende Bäume, Sträucher und Pflanzen finden, z.B. in den Gartenanlagen von großen Hotelanlagen oder in außerhalb von Ortschaften angelegten Obst- und Gemüsefeldern, oder auch in Müllhalden. Vor allem dort, wo im Sommer die süßen Früchte von Maulbeerbäumen auf den Boden fallen, halten sich frei lebende Schildkröten bevorzugt auf. Dies steht im Gegensatz zu den Aussagen der allermeisten Fauchautoren und von so manchen Tierärzten.

 

Himbeere

Zwei zweijährige Nachzuchten der Griechischen Landschildkröte beim Verzehr einer Himbeere. Himbeeren enthalten fast 85 % Wasser, was eine Dehydration verhindert. Neuere Untersuchungen und Biotopbeobachtungen lassen die gelegentliche Verfütterung von verschiedenen Obstsorten in einem neuen Licht erscheinen. Foto von Andrea Sperlich.

 

Dieses Thema griff nun kürzlich auch der Schildkröten-Experte Bidmon (2009) auf, indem er Aussagen in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen mit seinen eigenen Überlegungen und Beobachtungen verknüpfte. Seiner Meinung nach ist das Kapitel der Ernährung von Landschildkröten zumindest für einige der untersuchten Landschildkröten-Arten längst revisionsbedürftig; er geht damit in seinen Forderungen noch einen Schritt weiter als ich selbst. Warum sollten Früchte als Nahrungsergänzung oder auch ab und zu tierische Kost schaden, so fragt er und gibt auch die Antwort. Er stellt z.B. fest, dass in der Natur junge Grünpflanzen, also proteinreiches (eiweißreiches) Futter, problemlos genutzt und für bestimmte Lebensabschnitte (z.B. schnelles Wachstum nach dem Schlupf) regelrecht benötigt wird. Die einseitige Fütterung der von uns gehaltenen Tiere mit trockenen, proteinarmen Pflanzen wäre also nicht der richtige Weg, so folgert er. Beeren und Früchte, z.B. Apfelsinen, dürfen durchaus angeboten werden, wenn, was bei uns in der Freilandhaltung allerdings nur im Sommer zutreffen dürfte, auch nachts über den Zeitraum eines Darmpassagezyklus (8-12 Tage) ein ausreichendes Temperaturniveau zur Verfügung steht. Alleiniges Hauptfutter sind Früchte und Beeren nach wie vor nicht, weil die kurze Darmpassagezeit die Darmflora stark beeinträchtigt. Ich selbst habe im Biotop oft genug Schildkröten mit Durchfallerscheinungen gefunden.

 

Man darf gespannt sein, wie lange es dauern wird, bis derartige neuere Erkenntnisse auch in der allgemeinen Haltung von Landschildkröten berücksichtigt werden, denn die wenigen Personen, die sich ernsthaft mit dem Thema befassen, ernten zunächst einmal für ihre Arbeiten oft nur Kritik und nicht einmal Dialogbereitschaft. Ich sage es immer wieder: maßgebend für die Pflegepraxis von Schildkröten ist nicht immer das, was von einem zum anderen Schildkrötenbuch einfach "im guten Glauben" übernommen wurde, sondern was tägliche Realität in den Herkunftsländern der Tiere ist. Um die zu erkunden und in Verbindung mit Studien vor Ort richtig zu verstehen und zu interpretieren, reicht es nicht aus, sich als „Schildkrötentourist" beim Durchstreifen von Habitaten das Ziel zu setzen, innerhalb weniger Tage möglichst viele Schildkröten zu fotografieren. Wertvolle Erkenntnisse gewinnt man dann, wenn man im Freiland beispielsweise einer einzigen Schildkröte über den ganzen Tag hinweg unbemerkt und sorgfältig protokollierend, vielleicht sogar messend, folgt. Skeptiker kontern dann, dass es sich bei den Ergebnissen ja nur um eine Einzelbeobachtung handelt...

Deshalb: wer demnächst in eine „Schildkrötenregion" reist und bereit ist, einen Tag lang Schildkröten-Studien durchzuführen, dem würde ich dazu gerne einige Tipps geben. Man muss sich übrigens dafür durchaus nicht unbedingt ein (relativ) teures UVB-Radiometer zulegen...

 

Literatur:
Bidmon Hans-Jürgen (2009): Ernährungsgrundlagen und Darmpassagezeiten bei herbivoren Landschildkröten – oder wie selektierende Nahrungsgeneralisten auch unter extremen Bedingungen überleben: eine Übersicht. Schildkröten Im Fokus 6 (1), S. 3-26

 

Horst Köhler (27. Mai 2009)

Ich bin bei der Suche nach den Zusammenhängen zwischen UV-B-Strahlung, Breitengrade usw. auf Ihren mehr als interessanten Artikel gestoßen. Was Sie über UVB und die Produktion von Vitamin D3 bei Landschildkröten schreiben, gilt doch vermutlich auch für uns Menschen. Jedenfall haben Sie meine Fragen bezüglich Breitengrad und UV-B-Strahlung mehr als ausreichend beantwortet. Zu diesem äußerst informativen Artikel darf ich Sie beglückwünschen. Sie haben die Zusammenhänge einprägsam beschrieben.
Doch mein heutiges Anliegen hat nichts mit Schildkröten zu tun, sondern mit uns Menschen, denn zumindest ich möchte mich in den Wintermonaten zur Vitamin D-Produktion nicht unter eine Sonnenbank legen. Die Sonnenbänke sind unausgegoren und für sie gilt Ähnliches wie für das von Ihnen geschilderte Dilemma mit den UV-Lampen.
Wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir eine Empfehlung bezüglich einer UV-Lampe geben könnten, deren Spektrum so ist, dass man Vitamin D in den Hautzellen nach 10- bis 20-minütiger Expositionsdauer produzieren lassen kann (in den Wintermonaten). Gemäß Ihren Messungen erreicht unter bestimmten Wetterbedingungen die UV-B-Strahlung die Erdoberfläche auch in unseren Breitengraden in den Wintermonaten, oder habe ich da Ihre Messungen falsch interpretiert? Ich dachte nämlich bis jetzt, dass von November bis Mitte Februar bei uns keine UV-B-Strahlung ankommt. Bitte korrigieren Sie meine Ansicht, wenn ich mich getäuscht haben sollte. K.W., Landshut

In seiner jüngsten Veröffentlichung in Heft 1/2009 der Schildkröten-Fachzeitschrift Schildkröten-Im-Fokus geht Horst Köhler noch einmal auf das Thema "Über Bewegungsradien und Ruhepausen wild lebender maurischer Landschildkröten" ein. Im Zusammenhang mit der Erkundung der UV-B-Strahlung, die auf europäische Landschildkröten im Sommer im natürlichen Verbreitungsraum einwirkt, verfolgte er über mehrere Stunden hinweg die Laufwege und sonstigen Aktivitäten von zwei verschiedenen Landschildkröten Testudo graeca ibera in der Südtürkei. Die erste der beiden beobachteten Schildkröten legte in etwas über fünf Stunden ingesamt nur 3,25 m zurück, bevor sie um die Mittagszeit zur heißesten Tageszeit (30 °C im Schatten) in einem nicht überschaubaren weitflächigen Opuntien-Dickicht verschwand. An einem anderen Tag konnte eine zweite Schildkröte über acht Sunden hinweg beobachtet und ihre Laufwege vermessen werden: dieses Tier legte zwar in dieser Zeit insgesamt 63,5 m zurück, doch erfolgten diese Wanderungen insgesamt auf einer Fläche von nur etwa 45 qm. Neben diesen beiden Landschildkröten wurden auch noch weitere Tiere während der einwöchigen Studien wiederholt gesichtet, und zwar an den gleichen Standorten, so dass man durchaus von einer gewissen Standorttreue dieser Population sprechen kann.

 

Standorttreueklein

Genau entlang des am Ende des Beobachtungszeitraumes zur Fotodokumentation) ausgelegten Signalbandes und des 2 m langen Meterstabes hat sich eine der beiden beobachteten Landschildkröten zwischen 7.30 und etwa 11 Uhr am 1. Juni 2008 bewegt. Insgesamt hatte das Tier bis 12.40 Uhr lediglich etwas über 3 m zurückgelegt. Foto: Horst Köhler

Gleiche Beobachtungen von anderen Schildkröten-Reisenden
Einige Leser bestätigten diese Beobachtungsergebnisse. So schrieb Hans-Ulrich Schmidt aus Bünde, dass er über die Jahre hinweg ein Schildkrötenbiotop von Testudo hermanni hermanni auf Menorca besucht und dabei immer wieder die gleichen Tiere angetroffen habe. Er ist sich an Hand einiger markanter Sturz- und Bissverletzungen und einem genauen Fotoabgleich ganz sicher, dass es sich tatsächlich um die gleichen Schildkröten handelt. Veröffentlicht hat er seine Beobachtungen zur Schildkröten-Standorttreue unter dem Thema "Testudo hermanni hermanni auf Menorca" vor allem in den Ausgaben 2/2006 und 1/2008 der DGHT-Zeitschrift Radiata.
Eine Besucherin von schildi-online.eu aus dem Raum Friedberg/Bayern bereist seit fünf Jahren außerhalb der Urlaubs- und Feriensaison ein Schildkrötenbiotop bei Side in der Türkei, meist sogar zwei Mal im Jahr und findet dort ebenfalls zahlreiche standorttreue Tiere (siehe Bild unten). Sie erkennt sie an eindeutigen Merkmalen wie Schäden am Panzer, leichten Missbildungen, speziellen Krallenformen usw. Sie stellte fest, dass vor allem ältere Tiere ihren "Wohnsitz" dauerhaft beibehalten. Sie hat diesen Schildkröten sogar Namen vergeben und erkennt sie bei jedem neuen Besuch sofort wieder

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Diese am 1. März 2007, also im sehr zeitigen Frühjahr, von der im Bericht erwähnten Schildkröten-Freundin in der Südtürkei aufgenommene maurische Landschildkröte (Testudo graeca ibera) ist eine sehr gute Bekannte der Fotografin, die bei jedem ihrer Besuche auf dieses Tier trifft. Sie erkennt es sofort an der Form der Krallen, der Beinschuppen, der leichten Panzerschäden und der etwas ungewöhnlichen Stellung des hintersten Randschildes des Rückenpanzers (Schwanzschild, Supracaudale). Der Bewegungsradius der Schildkröte, vermutlich ein Männchen, das nach Angabe der Fotografin "grundsätzlich mies gelaunt" sei, beträgt nur ungefähr 100 m.

 

Quelle:
Köhler Horst (2009): Über Bewegungsradius und Ruhepausen wild lebender maurischer Landschildkröten. Schildkröten-Im-Fokus, 6. Jahrgang, 1. Februar 2009, S.29-34

Horst Köhler (17. Februar 2009)

Bei seinen eingehenden Feldstudien an maurischen Landschildkröten (Testudo graeca ibera) fand Horst Köhler aus Friedberg / Bayern am 1. Juni 2008 in der Südtürkei ein 2,6 kg schweres Weibchen, von dem er glaubte, es auf den Tag genau zwei Jahre zuvor im gleichen Lebensraum schon einmal gesehen zu haben, auch wenn es mittlerweile auf dem Carapax eine relativ frische Rotmarkierung aufwies, die im Juni 2006 noch nicht zu sehen war. Endgültige Klarheit war natürlich erst nach Rückkehr von der Reise nach einem genauen Vergleich der neuen mit den alten Carapax- und Plastronfotos von 2006 möglich. Und siehe da, es handelte sich wirklich um das gleiche Tier. Der genaue Fundort lag nur etwa 50 m vom Fundort am 1. Juni 2006 entfernt, was für eine ungewöhnliche Standorttreue dieser Schildkröte spricht. Da das Tier am 1.6.2006 genau vermessen wurde, war es nun auch möglich, die in den zwei Jahren im gewohnten Lebensraum erfolgte Veränderung der Körpergröße und des Gewichtes zu ermitteln.

 

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Dies war der endgültige Beweis: oben die Plastronansicht des Weibchens in einer Aufnahme vom 1. Juni 2006, darunter die gleiche Ansicht, fotografiert am 1. Juni 2008. 2006 wurde das Tier auf Dia-Film fotografiert, zwei Jahre später mit einer Digitalkamera. Man beachte die langen Krallen der hinteren Extremitäten im unteren Bild. Fotos von Horst Köhler, veröffentlicht in SACALIA Nr. 21/2008.

 

Horst Köhler berichtete über diesen erfreulichen, sicherlich nicht ganz alltäglichen "Wiederfund" in der österreichischen Zeitschrift SACALIA, der Vereinszeitschrift der Internationalen Schildkröten Vereinigung. Dort stellt er die Schildkröte vor und beschreibt auch, wie es zu der Carapaxmarkierung gekommen sein könnte. Auch andere Schildkröten, die Köhler während seines Aufenthaltes vor Ort im Schildkröten-Biotop fand, waren relativ standorttreu: auf die meisten traf er nämlich nur einen oder zwei Tage später wieder.

Quelle:
Köhler Horst (2008): Standorttreue von Landschildkröten im natürlichen Lebensraum: wild lebende Landschildkröte nach zwei Jahren wiedergefunden. SACALIA 21 (6), S. 17-27

Horst Köhler (5. Dezember 2008)