Nach einer dpa-Meldung von Ende November 2008 haben Wissenschaftler der Chinesischen Akademie der Wissenschaften unter Leitung von Prof. Chun Li in der südwestlichen chinesischen Provinz Guizhou die vermutlich bisher ältesten Schildkröten-Fossilien der Welt ausgegraben. Es handelt sich dabei um drei relativ gut erhaltene Exemplare, die den Artnamen Odontochelys semitestacea bekamen. Wie chinesische Autoren in der wissenschaftlichen Zeitschrift Nature (Vol. 457, S. 497) beschreiben, lassen die neuen Funde erstmals erkennen, dass die ersten Schildkröten offensichtlich noch nicht den großen und vollständigen Panzer der heute bekannten und auch der schon ausgestorbenen Arten trugen, denn ein Rückenpanzer fehlt. Man nimmt jetzt an, dass sich der Rückenpanzer der Schildkröten zu einem späteren Zeitpunkt wahrscheinlich aus einer knöchrigen Verlängerung und Verbreiterung des Rückgrates und der Rippen gebildet hat. Noch ein anderes besonderes Merkmal der Fossilienfunde ist erwähnenswert: im Unterschied zu den heutigen Schildkröten, die ihre Nahrung mit ihren Kiefernleisten aus Horn zerkleinern, verfügten die Ur-Schildkröten noch über Zähne. Der neue Artname wurde nach diesen beiden Besonderheiten gewählt, denn er bedeutet etwa "Halbpanzer-Schildkröte mit Zähnen".
Wie die chinesischen Forscher weiter mitteilten, ist durch die neuen Funde die ohnehin noch relativ neue Vorstellung, dass die allerersten Schildkröten an Land und nicht im Wasser lebten, wieder ins Wanken geraten. Die Tatsache des Vorhandenseins eines vollständigen Bauchpanzers bei Fehlen des Rückenpanzers sowie der genaue Fundort sprechen dafür, dass Odontochelys semitestacea in flachen Küstengewässser lebte. Hätten sich die Tiere nämlich(ausschließlich) an Land aufgehalten, hätten sie zum Schutz eher einen Rückenpanzer und keinen Bauchpanzer benötigt. Ein Bauchpanzer schützt aber im Wasser lebende Reptilien gegen Angriffe von unten.
Deutlich zu sehen ist der Bauchpanzer eines in China ausgegrabenen, etwa 220 Millionen Jahre alten Schildkrötenfossils Odontocheyls semitestacea (undatiertes Handout; Ansicht von unten). Quelle: Institute of Vertebrate Palaeontology and Palaeanthropology, Peking.
Die ältesten bisher, übrigens in Deutschland im oberen Stubensandstein, gefundenenen Urschildkröten, ca. 1 m lang und mit einem sehr flachen Panzer ausgestattet, haben ein geschätztes Alter zwischen "nur" 204 und 206 Millionen Jahren. Diese Ur-Reptilien mit dem wissenschaftlichen Artnamen Proganochelys quenstedti besaßen im Gegensatz zu Odontochelys semitestacea bereits einen vollständigen Rücken- und Bauchpanzer. Mit den jetzigen Aufsehen erregenden Neufunden haben die Forscher die Möglichkeit, die zeitliche Entwicklung des Panzers von Landschildkröten zu rekonstruieren. So wie es jetzt aussieht, ist eine der kontrovers diskutierten Hypothesen für die Panzerentstehung, nämlich durch eine besondere Weiterentwicklung der Haut, sehr unwahrscheinlich geworden.
Horst Köhler (nach einem Artikel in der Augsburger Allgemeinen vom 28.11.2008 und einer dpa-Pressenachricht).
Dieser Bericht wurde am 1. Dezember 2008 online gestellt.