Es scheint sich langsam etwas zu bewegen, was die vorsichtige Neubewertung bis hin zur kritischen Beurteilung einiger jahrelang üblicher Pflegepraktiken bei europäischen Landschildkröten betrifft. Einige Beispiele: als ideale Maßnahmen wurden - und werden noch immer - komplette Gärten für die Haltung von nur drei oder vier Schildkröten propagiert, maximale Haltungstemperaturen von 45 °C und sogar noch mehr unter dem Wärmespot empfohlen und in Zimmerterrarien bzw. Glas-Gewächshäusern mit UVB-Lampen kurzzeitbestrahlt, deren Strahlungsintensität teilweise die der direkten Äquator-Sonne im Sommer zur Mittagszeit entspricht.

Schon in meinem im letzten Jahr erschienenen Buch „Aufzucht europäischer Landschildkröten-Babys" (siehe Rubrik „Schildi-Buch") habe ich aufgezeigt, dass, wann und wie Schildkröten verschiedener Gattungen im Sommer die Sonne zur heißesten Tageszeit konsequent meiden und sich in schattige Bereiche zurückziehen (vorübergehende Aestivation); dies erfolgt vor allem in den natürlichen Lebensräumen der Tiere. Und zwar scheint die Suche nach Schattenplätzen bei den von mir untersuchten Gattungen immer dann ausgelöst zu werden, sobald die Carapax-Temperatur einen Wert von rund 32 °C übersteigt. Warum also in einem Teilbereich eines Terrariums für Temperaturen von 45 °C sorgen, vor allem angesichts der heutigen Stromkosten? Natürlich ist damit nicht gemeint, dass die Tiere bei zu niederen Temperaturen gehalten werden dürfen.

In diversen neueren Publikationen, vor allem aber in der Rubrik „Fachartikel" dieser Website, habe ich außerdem in den letzten Monaten über die Ergebnisse meiner UVB-Strahlungsmessungen im natürlichen Verbreitungsraum berichtet. Diese Studien erfolgten quasi direkt am Tier in dessem Mikrolebensraum über mehrere Stunden, in einigen Fällen sogar über einen ganzen Tag hinweg. Das Ergebnis: Landschildkröten „tanken" die UVB-Strahlung an einem ganz normalen Schönwetter-Tag nicht innerhalb eines kurzen Zeitraumes von nur 1 Stunde oder gar nur 30 Minuten, wie dies mitunter im Terrarium durch den Pfleger erfolgt, sondern praktisch unbewusst über den gesamten Tag in relativ kleinen „Dosen", auch während der Phasen der Hitzeruhepausen im Gebüsch, durch das trotzdem immer auch ein schmaler Lichtstrahl und damit etwas UVB dringt. Die tatsächliche Gesamt-UVB-Dosis während eines sonnigen Sommertages im Habitat europäischer Landschildkröten wird immer noch deutlich überschätzt: nach meiner Auffassung muss man zur UVB-Versorgung von Landschildkröten keine UV-Strahler mit 300 W Leistung einsetzen.

Nun aber zum Punkt Ernährung: schon seit Jahren habe ich bei meinen Schildkröten-Exkursionen in südeuropäische Vorkommensgebiete immer wieder beobachtet, wie viele auf den Boden gefallene Früchte, Beeren und auch Tomaten von Landschildkröten gefressen werden, wenn sie entsprechende Bäume, Sträucher und Pflanzen finden, z.B. in den Gartenanlagen von großen Hotelanlagen oder in außerhalb von Ortschaften angelegten Obst- und Gemüsefeldern, oder auch in Müllhalden. Vor allem dort, wo im Sommer die süßen Früchte von Maulbeerbäumen auf den Boden fallen, halten sich frei lebende Schildkröten bevorzugt auf. Dies steht im Gegensatz zu den Aussagen der allermeisten Fauchautoren und von so manchen Tierärzten.

 

Himbeere

Zwei zweijährige Nachzuchten der Griechischen Landschildkröte beim Verzehr einer Himbeere. Himbeeren enthalten fast 85 % Wasser, was eine Dehydration verhindert. Neuere Untersuchungen und Biotopbeobachtungen lassen die gelegentliche Verfütterung von verschiedenen Obstsorten in einem neuen Licht erscheinen. Foto von Andrea Sperlich.

 

Dieses Thema griff nun kürzlich auch der Schildkröten-Experte Bidmon (2009) auf, indem er Aussagen in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen mit seinen eigenen Überlegungen und Beobachtungen verknüpfte. Seiner Meinung nach ist das Kapitel der Ernährung von Landschildkröten zumindest für einige der untersuchten Landschildkröten-Arten längst revisionsbedürftig; er geht damit in seinen Forderungen noch einen Schritt weiter als ich selbst. Warum sollten Früchte als Nahrungsergänzung oder auch ab und zu tierische Kost schaden, so fragt er und gibt auch die Antwort. Er stellt z.B. fest, dass in der Natur junge Grünpflanzen, also proteinreiches (eiweißreiches) Futter, problemlos genutzt und für bestimmte Lebensabschnitte (z.B. schnelles Wachstum nach dem Schlupf) regelrecht benötigt wird. Die einseitige Fütterung der von uns gehaltenen Tiere mit trockenen, proteinarmen Pflanzen wäre also nicht der richtige Weg, so folgert er. Beeren und Früchte, z.B. Apfelsinen, dürfen durchaus angeboten werden, wenn, was bei uns in der Freilandhaltung allerdings nur im Sommer zutreffen dürfte, auch nachts über den Zeitraum eines Darmpassagezyklus (8-12 Tage) ein ausreichendes Temperaturniveau zur Verfügung steht. Alleiniges Hauptfutter sind Früchte und Beeren nach wie vor nicht, weil die kurze Darmpassagezeit die Darmflora stark beeinträchtigt. Ich selbst habe im Biotop oft genug Schildkröten mit Durchfallerscheinungen gefunden.

 

Man darf gespannt sein, wie lange es dauern wird, bis derartige neuere Erkenntnisse auch in der allgemeinen Haltung von Landschildkröten berücksichtigt werden, denn die wenigen Personen, die sich ernsthaft mit dem Thema befassen, ernten zunächst einmal für ihre Arbeiten oft nur Kritik und nicht einmal Dialogbereitschaft. Ich sage es immer wieder: maßgebend für die Pflegepraxis von Schildkröten ist nicht immer das, was von einem zum anderen Schildkrötenbuch einfach "im guten Glauben" übernommen wurde, sondern was tägliche Realität in den Herkunftsländern der Tiere ist. Um die zu erkunden und in Verbindung mit Studien vor Ort richtig zu verstehen und zu interpretieren, reicht es nicht aus, sich als „Schildkrötentourist" beim Durchstreifen von Habitaten das Ziel zu setzen, innerhalb weniger Tage möglichst viele Schildkröten zu fotografieren. Wertvolle Erkenntnisse gewinnt man dann, wenn man im Freiland beispielsweise einer einzigen Schildkröte über den ganzen Tag hinweg unbemerkt und sorgfältig protokollierend, vielleicht sogar messend, folgt. Skeptiker kontern dann, dass es sich bei den Ergebnissen ja nur um eine Einzelbeobachtung handelt...

Deshalb: wer demnächst in eine „Schildkrötenregion" reist und bereit ist, einen Tag lang Schildkröten-Studien durchzuführen, dem würde ich dazu gerne einige Tipps geben. Man muss sich übrigens dafür durchaus nicht unbedingt ein (relativ) teures UVB-Radiometer zulegen...

 

Literatur:
Bidmon Hans-Jürgen (2009): Ernährungsgrundlagen und Darmpassagezeiten bei herbivoren Landschildkröten – oder wie selektierende Nahrungsgeneralisten auch unter extremen Bedingungen überleben: eine Übersicht. Schildkröten Im Fokus 6 (1), S. 3-26

 

Horst Köhler (27. Mai 2009)