von Horst Köhler

Weicht ein neu erschienenes Schildkrötenbuch von früheren Werken in Inhalt und teilweise in den Aussagen und Folgerungen für die Haltung ab, wird es von der Fachwelt besonders genau zur Kenntnis genommen. Dies ist auch gut so. Wenn aber die Kritik über ein derartiges Buch unberechtigt ist und den fundierten Tierbeobachtungen des Autors widerspricht, kann sie nicht unkommentiert hingenommen werden. Die nachfolgende Stellungnahme betrifft die Rezension meines Buches „Aufzucht europäischer Landschildkröten-Babys" in der Februar-Ausgabe 2010 des Infobriefes MINOR, der von der AG Schildköten der DGHT herausgegeben wird. Verfasst haben die Besprechung Dr. Beate Pfau und Dr. Jutta Wiechert.
Neben zahlreichen positiven Stimmen gibt es seit dem Frühjahr 2008 insgesamt drei veröffentlichte negative Buch-Beurteilungen, und zwei von ihnen stammen überraschenderweise von Tierärzten. Kann es sein, dass einige Tierärzte an mittlerweilen überholten Vorstellungen festhalten, weil sie die Bedingungen im Habitat nur ungenügend kennen?

Es geht mir nicht darum, die Aussagen der beiden Autorinnen aus „Rechthaberei" Punkt für Punkt zu widerlegen, aber den Vorwurf von handwerklichen Fehlern kann ich ihnen nicht ersparen. Wenn man ein Buch kritisch bespricht, dann sollte man es wenigstens Seite für Seite gelesen haben. Einige Beispiele:
♦  Dass das Kapitel über Schildkrötenkrankheiten eher kurz ausgefallen ist, ist gewollt und im Buch auch begründet (es gibt hervorragende Bücher über Schildkröten-Krankheiten, da muss kein neues verfasst werden; zumal ich kein Reptilien-Tierarzt bin).
♦  Dass ein Balkongehege ein „Risiko für das Überleben der jungen Tiere" darstellt, gilt nicht, wenn man die Voraussetzungen für ein derartiges Balkongehege berücksichtigt. Und die sind im Buch eingehend beschrieben.
♦  Die Warnung der Autorinnen vor Rosenmulch als Bodensubstrat für Landschildkröten mit Verweis auf seinen angeblich sehr niedrigen pH-Wert und die unterschiedliche Struktur kann ich nicht teilen: der von mir für die älteren Schildkröten im Freigehege verwendete grobe Rindenmulch (Fa. Bauhaus) hat pH = 4 bis 5 (ebenso Piniendekor), ist also wesentlich saurer als der feinere Rosenmulch (Fa. Plantop) mit pH = 5,5 bis 7 oder als der ebenfalls feine Rindenhumus (pH = 5,5 – 6,6). Kollegen der Rezensentinnen halten normalen Rindenmulch für gut verwendbar [z.B. Kölle, Baur & Hoffmann, 1998]; dann gilt dies erst recht für den weniger grob strukturierten und besser gereinigten Rosenmulch, der Feuchtigkeit und Wärme gut zu speichern vermag.
♦  Beanstandet wird ein Bild, das eine zu hohe Versteck- und Kletterhöhle zeigt, dabei ist nur wenige Buchseiten weiter in der Bildunterschrift eines weiteren Fotos mit der gleichen Kletterhöhle ausdrücklich vor der Verwendung von derart steilen Höhlen gewarnt.
♦  Die Aussage meiner Kritikerinnen, dass zu lange Krallen bei Landschildkröten auf Haltungsfehler schließen lassen, ist meiner Meinung nach nicht haltbar: im natürlichen Verbreitungsraum sehe ich häufig Tiere mit zu langen Krallen (Bild 1) und gehe deshalb auch immer mit einer Nagelschere auf Schildkröten-Exkursion.

 

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Bild 1: Wurde dieses Tier nicht artgerecht gehalten, weil es zu lange Krallen (und auch noch Zecken) hat? Nein, diese Plastronaufnahme eines Testudo graeca ibera-Weibchens stammt aus dem natürlichen Verbreitungsraum dieser Unterart bei Kemer an der Türkischen Riviera. Man sollte bei den Schildkrötenhaltern durch Aussagen wie die, dass lange Krallen auf Pflegefehler schließen lassen, keine Schuldgefühle aufkommen lassen...

Doch nun zu den für die Leser dieses Beitrages sicherlich interessanteren Vorwürfen. Meine Kommentare dazu sind zur besseren Kenntlichmachung kursiv gehalten.

Gleich der erste Vorwurf gipfelt darin, dass die im Buch abgebildeten maurischen Landschildkröten nicht der Unterart Testudo graeca ibera, sondern der Unterart Testudo graeca terrestris zugerechnet werden müssen, bei der es sich, so die Behauptung der Rezensentinnen weiter, „um eine ökologisch anders spezialisierte Unterart" handeln soll.
Auch wenn hinter der Art Testudo graeca immer noch viele Fragezeichen stehen und der Forschungsbedarf entsprechend groß ist, ist diese Behauptung falsch. Denn als Verbreitungsgebiet von T. g. terrestris gilt die (süd)östliche Türkei (beginnend bei der Stadt Adana), der Norden Israels, des Libanon und Syriens bis über die nördlichen Regionen des Iraks weiter in Richtung Osten. Alle in meinem Buch abgebildeten frei lebenden maurischen Landschildkröten T. graeca wurden aber von mir südwestlich von Antalya fotografiert, also mindestens 400 km Luftlinie westlich von Adana; exakt diesen Lebensraum kenne ich von etwa zehn Besuchen sehr gut. Im Übrigen gibt es einen deutlich erkennbaren Unterschied der beiden Unterarten, denn T. g. terrestris ist deutlich heller gefärbt und besitzt an den Vorderbeinen gelblich gefärbte Schuppen [Pieh & Philippen, 2007]. Ich meine daher, dass sich die beiden Rezensentinnen nicht als „Hobby-Systematiker" mit falschen Aussagen betätigen, sondern dieses Feld erfahrenen Herpetologen überlassen sollten. Ich selbst bin ebenfalls kein Fachmann für Schildkröten-Taxonomie und habe mir deshalb bei den Vorarbeiten zum Buch den Unterartstatus der abgebildeten Tiere durch vorgelegte Fotos von Fachleuten bestätigen lassen.

Im Kapitel über die Ernährung würde ich, so die Kritik weiter, z.B. süßes Obst, Milch- und Getreideprodukte und wasserreiches Gemüse, also „gänzlich ungeeignete Futtersorten" empfehlen.
Hier haben die Rezensentinnen offensichtlich ebenfalls nicht genau gelesen, denn auf der Buchseite 131 warne ich ausdrücklich vor einer ständigen Verfütterung derartiger Produkte, sehe aber in einer gelegentlichen Zugabe zum Hauptfutter keine Gefahr. Dies gilt ganz besonders für süßes Obst, das die Tiere nach meiner Beobachtung gerne überall im natürlichen Lebensraum aufnehmen. Nach neueren Untersuchungen [Bidmon, 2009] dürfen saftige, süße Früchte als gelegentliche Abwechslung durchaus verfüttert werden, allerdings nur in der warmen Jahreszeit (d.h. bei Carapaxtemperaturen um 30 °C, siehe unten).
Dass Früchte bei manchen Arten fast eine Hauptnahrung darstellen, zeigt eine neuere Arbeit über die südamerikanische Waldschildkröte Chelonoidis denticulata [Jerozolimski Adriano et.al., 2009]: bei Kotuntersuchungen wild lebender Tiere dieser Art stellte sich heraus, dass Früchte das zweithäufigste Futter sind.

Nächster Vorwurf: ich halte meine Zuchttiere von Testudo graeca ibera und Testudo hermanni boettgeri, also verschiedene Arten, in einem gemeinsamen Gehege (wobei ein Ausweichgehege bei zu rabiat werdenden Männchen existiert). In den Vorkommensgebieten beider Arten würden sich im Gegensatz dazu die Habitat- und Temperaturansprüche unterscheiden, was, so folgern wohl die Kritikerinnen, in der Pflege entsprechend zu berücksichtigen wäre.
Letzteres wäre aus meiner Sicht stark übertrieben, denn die minimalen Unterschiede in den recht ähnlichen Naturbiotopen beider Arten sind angesichts der deutlich abweichenden klimatischen Bedingungen hierzulande vernachlässigbar. Wenn man nur eine Art, z.B. T. graeca in der Türkei betrachtet, weichen die in den weiten Vorkommensgebieten herrschenden Umgebungsbedingungen deutlich voneinander ab: die gleiche Art kommt sowohl in feucht-warmen küstennahen Dünenlandschaften, in landwirtschaftliche genutzten Gebieten und in 1.500 m Höhe im Taurusgebirge vor. Und da wird ernsthaft daran gedacht, T. hermanni boettgeri und T. graeca im heimischen Gehege unterschiedlich zu halten?
Es muss auch gestattet sein, aufzuzeigen, dass die Vergesellschaftung trotz mancher gegenteiliger Erfahrungen durchaus möglich ist – z.B. wenn man die Tiere von klein auf in der gleichen Gruppe aufzieht. Der Vorwurf, ich hätte nicht darauf hingewiesen, dass streitsüchtige Tiere getrennt werden müssen, ist überflüssig: die Rezensentinnen sollten zu diesem Punkt die Seite 51 oben nachlesen. Außerdem ist es wohl für jeden Schildkrötenhalter eine Selbstverständlichkeit, ständig streitende Tiere zu separieren und im Notfall - wenn kein passendes Zweitgehege zur Verfügung steht - auch die eine oder andere Schildkröte (wieder) abzugeben.

Zu meinen zahlreichen Carapax-Temperaturmessungen an Schildkröten aus ganz unterschiedlichen Gattungen und meiner daraus abgeleiteten Haltungsempfehlung in Innenräumen (Bestrahlung durch Wärmelampen so, dass die höchste Carapaxtemperatur 30 °C nicht wesentlich übersteigt, wenn die Schildkröte direkt unter der Lampe ruht), wird mir entgegengehalten, dass bei Testudo graeca ibera in Nordgriechenland eine durchschnittliche Körpertemperatur von 30,3 ± 2,9 °C für Männchen und 30,8 ± 3,1 °C für Weibchen gemessen wurden, Werte also, die - so die Kritik -  bei den von mir vorgeschlagenen Haltungsbedingungen angeblich nicht erreicht werden können.
Ich möchte hier nicht ins Detail gehen und vor allem nicht den Zusammenhang von Körper- und Carapaxtemperatur diskutieren, ganz abgesehen davon, dass die hier genannten Werte eigentlich überraschend gut mit meinen Messwerten übereinstimmen. Oft wird nämlich nicht berücksichtigt, dass im Körper von Landschildkröten eine (geringe) Wärmeproduktion durch den Stoffwechsel der die Nahrung aufspaltenden Verdauungsbakterien stattfindet und die kloakale Temperatur erhöht [Bidmon, 2007], mitunter sogar über die Carapaxtemperatur hinaus. Wenn eine Schildkröte, wie in meinem Buch beschrieben, an trüben und kühlen Tagen schon morgens herumwandert und trotz niedriger Carapaxtemperatur Nahrung aufnimmt (Bild 2), dann ist die Erklärung dafür diese innere Wärmeproduktion, die die Temperatur im Körper erhöht. Diese Zusammenhänge sind den beiden Rezensentinnen vielleicht nicht bekannt. Ich weise nur daraufhin, dass je nach Außentemperatur die Differenz zwischen Körper- und Carapaxtemperatur ganz unterschiedlich sein kann, vor allem während und kurz nach einer erfolgten Thermoregulation [Edwards & Blouin-Demers, 2007].

 

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Bild 2: Ein Bild, das es nach dem mittlerweilen 20 Jahre alten „Schulwissen" über die Landschildkrötenpflege eigentlich „gar nicht geben dürfte": eine maurische Landschildkröte an einem trüben Frühjahrstag beim Fressen bei einer Umgebungstemperatur von nicht einmal 11 °C. Dies ist durchaus kein Ausnahmefall, aber nur bei großen, älteren Tieren zu beobachten, bei denen durch die Enzymtätigkeit im Körper Wärme produziert wird. Das Bild dient nur dokumentatorischen Zwecken und soll keinesfalls dazu anregen, Landschildkröten bei derart tiefen Temperaturen im Freien ohne Schutzhütte zu halten. Beide Fotos stammen vom Autor.

Wenn ich wiederholt zu verschiedenen Jahreszeiten gemessen habe, dass sich mehrere Arten (auch tropische) bei Erreichen einer Carapaxtemperatur von etwa 30-32 °C nicht mehr der freien Sonne aussetzen, sondern unverzüglich Schattenplätze aufsuchen, ist es nur richtig, dies auch in der Haltung umzusetzen und die Tiere nicht etwa Temperaturen um 45 °C, also nahe am Letalwert, auszusetzen (was, nebenbei bemerkt, eine große Energieverschwendung ist), auch dann nicht, wenn dieser Wert nur in einem Teilbereich des Geheges erreicht wird. Der von mir auch bei Riesenschildkröten nachgewiesene „Schwellenwert" von 30-32 °C wurde auch von anderer Seite bestätigt: Gerlach [2005] maß beispielsweise bei Seychellen-Riesenschildkröten nie höhere Kloakentemperaturen als 27 bis 33 °C, weil die Riesenschildkröten eben bei intensiver Sonnenbestrahlung die Sonne konsequent meiden, was ich bei allen meinen Besuchen äquatorialer Vorkommensgebiete wiederholt selbst feststellen konnte.

Kritisiert wird schließlich, dass ich einerseits von der Verabreichung von Vitamin D3 ohne entsprechende Verordnung durch einen Tierarzt abrate, dann aber (auf Seite 48) doch ein konkretes Präparat mit genauer Dosierungsangabe nenne.
Auch hier haben die beiden Rezensentinnen offensichtlich nur flüchtig gelesen: nur im Fall eines durch den Tierarzt nachgewiesenen Vitamin-D3-Defizites, wie es bei längerer Innenhaltung ohne UV-B-Bestrahlung entstehen kann, sollte „in Absprache mit einem mit Reptilien gut vertrauten Tierarzt, der das betreffende Tier auch wirklich gesehen und untersucht hat" (wörtliches Zitat aus dem Buch), das betreffende Medikament über das Futter oder das Trinkwasser verabreicht werden. Werden die Schildkröten in der warmen Jahreszeit im Freien gehalten, bedarf es selbstverständlich keiner Vitamin D3-Zufütterung. Wo ist also der beanstandete Widerspruch?

Fazit
Insgesamt gesehen halte ich die in der Zeitschrift MINOR abgedruckte Rezension als im hohen Maße missglückt und fehlerhaft. Nicht, weil durch die Kritik vielleicht einige Bücher weniger verkauft werden, sondern weil meine Empfehlungen für die Haltung, die ausschließlich aus belegten Naturbeobachtungen im Habitat, Verhaltensstudien im eigenen Gehege und der neueren Fachliteratur abgeleitet sind, infrage gestellt, missverstanden oder nicht zur Kenntnis genommen werden. Eine vorherige Rücksprache mit mir zu den einzelnen, angeblich strittigen Punkten wäre wohl besser gewesen.

 

Literatur
Bidmon, H.-J. (2007): pers. Mitteilung an den Autor vom 24.8.2007
Bidmon, H.-J. (2009): Ernährungsgrundlagen und Darmpassagezeiten bei herbivoren Landschildkröten – oder wie selektierende Nahrungsgeneralisten auch unter extremen Bedingungen überleben: eine Übersicht. Schildkröten Im Fokus, 6 (1), S. 3-26
Edwards, A.L. & Blouin-Demers, G. (2007): Thermoregulation as a function of thermal quality in a nothern population of painted turtles, Chrysemys picta. Can. J. Zoology, 85, S. 526-535
Gerlach, Justin (2005): Thermoregulation in captive Indian Ocean giant tortoises. Chelonian Conservation and Biology 4 (4), S. 937-941
Jerozolimski Adriano et. al. (2009): Are tortoises important seed dispersers in Amazonian forests? Oecologia, 161, S. 517-528
Köhler, Horst (2009): „Balkon-Schildkrötengehege? Ja, aber nicht generell" www.schildi-online.eu, Rubrik „Berichte & Artikel", Bild 1, 22.4.2009
Kölle, P., Baur, M. & Hoffmann, R. (1998): Kardinalfehler bei der Landschildkrötenpflege, 1. Teil. DATZ 5 (12), S. 796-800
Pieh Alexander & Philippen Hans-Dieter (2007): Mediterrane Landschildkröten. DRACO Nr. 32, S. 4-34

 

Dieser Beitrag wurde am 10. Juni 2010 online gesetellt.