Frage: Ich bin Fan Ihrer Schildkrötenliteratur und habe eine Frage an Sie. Mir wurde vor Wochen eine griechische Landschildkröte (NZ 2009) von einer befreundeten Züchterin geschenkt, da diese die Zucht aufgibt und das Tier ohne Schwänzchen geboren wurde (Bild 1). Es ist eine putzmuntere Schildkröte und - dem letzten Bauchschild nach zu urteilen - würde ich meinen, ein Weibchen. Nun ist bei meinen eigenen geschlechtsreifen Schildkröten dieses Jahr zum ersten Mal ebenfalls ein Tierchen mit einer Panzeranomalie und gleichzeitig ohne Schwänzchen geschlüpft (bei 33 °C gebrütet; Bild 2). Alle anderen Schlüpflinge sind ohne Anomalie, ganz glatt und wunderschön in der Zeichnung. Das Jungtier ohne Schwänzchen ist munter und macht keinen kranken Eindruck.

Grewenig 1189 kleinBild 1: Nachzuchttier einer sieben Jahre alten weiblichen Griechischen Landschildkröte (Testudo hermanni boettgeri, Thb) in einer Nahaufnahme. Es ist kein Schwanz vorhanden, nur ein „Kranz“ mit einer Öffnung (Kloake) in der Mitte.

 

 

 

 

 

 

 

 

Grewenig 1156 Ausschnitt klein

 

Bild 2 (links): Dies ist mein Schlüpfling (ebenfalls Thb), am 14. Juli 2016 mit einem Gewicht von nur 11 g  geschlüpft. Auch bei diesem NZ-Tier fehlt der Schwanz. Bild 1 und 2: Andrea Grewenig

 

 

 

 

Meine Fragen:
Wie entwickeln sich diese Tiere, wenn sie ins geschlechtsreife Alter kommen und es sich tatsächlich um Weibchen handelt?
Muss man sie dann von der Gruppe bzw. den Männchen separieren aufgrund der Verletzungsgefahr durch aufdringliche Partner? Können sie überhaupt Eier legen?
Können auch männliche Tiere betroffen sein?
Im Internet habe ich dazu keine Antworten gefunden.
                                                                                                                           Andrea Grewenig, Frankreich


Antwort:
Ich besitze mit Landschildkröten ohne Schwanz keine eigenen Erfahrungen, egal ob es sich um Schlüpflinge oder um adulte Tiere handelt. Bis zur Zuchtaufgabe im Frühjahr 2016 habe ich über 300 Nachzuchten bei Bebrütungstemperaturen bis 34 °C erzielt. Ich habe auch bei meinen Exkursionen in die natürlichen Biotope europäischer Landschildkröten keine Schildkröte mit fehlendem Schwanz gefunden, im Gegensatz zu angeborenen Schildanomalien, die man durchaus auch bei wild lebenden Schildkröten sieht. Auch in der mir vorliegenden Schildkröten-Fachliteratur konnte ich zu diesem Thema kaum etwas Verwertbares finden.

Die Ursachen für das Vorkommen von Landschildkröten ohne Schwanz sind vielfältig. In einem Fall hat ein Züchter eine schwanzlose Griechische Landschildkröte zur Weiterpflege erhalten, deren Schwanz durch einen Mähdrescher teilweise abgetrennt wurde. Das Tier war in der Afterregion durch den ausgeschiedenen Kot immer verschmutzt und musste regelmäßig gereinigt werden. Nach der ersten Überwinterungsphase nach dem Unfall wachte die Schildkröte zwar auf, verstarb aber zwei bis drei Tage später.Es gibt vermutlich auch Fälle, wo einer Schildkröte der Schwanz durch einen Hund, einen Marder oder eine Ratte ganz oder zum Teil abgebissen wurde. Dass dies durdch eine zweite Landschildkröte passiert, dürfte eher eine große Ausnahme sein.

Zum Fehlen eines Schwanzes können auch Züchterfehler und/oder Mutationen beitragen. Die Züchterin Gunda Meyer de Rojas berichtete mir auf Anfrage, dass unter den etwa 140 Thb-Schlüpflingen, die sie über die Jahre ausbrütete, nur zwei schwanzlose Jungtiere waren. Bei beiden funktionierte die Ausscheidung völlig normal. Beide Tiere wiesen im hinteren Panzerbereich Schildanomalien auf. Eine dieser beiden Schildkröten, ein Männchen, ist mittlerweile acht Jahre alt und erfreut sich bester Gesundheit (Bild 3 und 4), das zweite ist allerdings nach der ersten Überwinterung verstorben (Meyer de Rojas, 2016).

Ich kenne eine Halterin, die eine etwa 12 Jahre alte Griechische Landschildkröte ohne Schwanz besitzt; offensichtlich hatte dieses Tier diese Missgestaltung schon vom Schlupf an. Dieses Weibchen wird für sich allein gehalten und hat auch noch nie (unbefruchtete) Eier abgesetzt. Es verhält sich völlig normal, frisst und gedeiht gut, auch der Kloakenbereich ist nie verschmutzt. Bei der Betrachtung von oben ist der Schildkröte nichts von ihrem Makel anzusehen.

Meyer 61 2014 klein

Bild 3: Dieses Männchen mit einem stark verkürzten „Stummelschwanz“ lebte bis zum Sommer 2016 bei Gunda Meyer de Rojas in einer Gruppe halbwüchsiger Thb, wurde dann aber in eine Einzelhaltung abgegeben. Das Tier lieferte sich Konkurrenzkämpfe mit den ranghöchsten Männchen der Gruppe und begann im Jahr 2015 sogar, ein semi-adultes Weibchen zu besteigen. Obwohl bei dieser Kopulation sein Geschlechtsorgan zutage trat, war der Vorgang eher nur ein verzweifeltes Bemühen. Die im Text angesprochene Schildanomalie ist bei dieser Schräg-Aufnahme, jedenfalls auf den ersten Blick, nicht zu erkennen.

Meyer 61 Schwanzpartie 2014 kleinBild 4: Das gleiche Tier wie in Bild 3. Hier ist der „Stummelschwanz“, der anfangs dazu verleitete, das Tier als Weibchen anzusehen, deutlich zu erkennen. Bild 3 und 4: Gunda Meyer de Rojas



Eine Rückfrage bei Bernd Pitzer, Griechenland, ergab noch eine weitere Ursache für schwanzlose Landschildkröten. Alle Tiere mit diesem Makel, die er entweder selbst (gesund) pflegte oder in der freien Natur auffand, zeigten Vernarbungen, die auf einen Madenbefall (Myiasis) hindeuten (Pitzer, 2016). Die Fliegenmaden legen ihre Eier im Kloakenbereich ab. Die schlüpfenden Maden dringen dann durch die Kloake ein, verursachen schwere Fleischwunden und können sogar ganze Körperteile, ja, sogar den gesamten Panzer leerfressen.

Fazit: Ein fehlender Schildkrötenschwanz geht sehr oft, wenn auch nicht immer, einher mit Schildanomalien. Nicht zu extrem ausgebildete Schildanomalien betrachte ich eher als „Schönheitsfehler“, die keine nachteiligen Auswirkungen auf ein artgerechtes Leben haben, während ein fehlender Schwanz mit Eintritt der Geschlechtsreife ein echter Mangel ist und das Leben des betroffenen Tieres negativ beeinflussen kann, insbesondere dann, wenn noch andere Körper- bzw. Organdefekte hinzukommen. Andererseits können derartige „fehlerhafte“ Landschildkröten, sofern sie normales Verhalten aufweisen, jahrelang ohne Probleme gepflegt werden – allerdings nur bis zum Eintritt der Geschlechtsreife. Dann sollte das betroffene Tier aus der Gruppe separiert und am besten in einer Einzelhaltung gepflegt werden, oder in einer Gruppe semi-adulter Schildkröten.

Wenn ein adultes Weibchen keinen Schwanz besitzt und damit auch keine normale Kloake vorhanden ist, die sich bei gesunden Tieren auf der Schwanzunterseite befindet, hat es dennoch eine Körperöffnung für die Ausscheidungsprodukte, siehe Bild 1. Da diese in kürzestem Abstand zur Kloake an der Schwanzwurzel eines gesunden Tiers sitzt, könnte man annehmen, dass eine Paarung durch ein Männchen durchaus möglich ist. Doch die Gefahr einer Verletzung durch den Schwanz, dessen Hornnagel bzw. durch das Geschlechtsteil eines kopulierenden Männchens ist viel zu groß.

Andererseits wurde mir von einem Fall berichtet, bei dem eine geschlechtsreife weibliche Landschildkröte in einer Gruppe mit Männchen gehalten wurde, die aber offensichtlich noch nie Anstalten zur Verpaarung mit diesem Weibchen gemacht haben; sie bevorzugen offensichtlich die noch vorhandenen anderen Weibchen.

Da ein fehlender Schwanz oft mit Schildanomalien verbunden ist, kommt in – allerdings eher seltenen – Fällen auch eine Missbildung dergestalt vor, dass der Abstand zwischen Oberschwanzschild und Afterschild zu gering ist und es bei einer möglichen Eiausscheidung zu Komplikationen kommt.

Bei geschlechtsreifen schwanzlosen Schildkröten-Männchen ist die Situation etwas komplizierter und für das Tier selbst bei Kopulationsversuchen unangenehmer. Denn die Genitalien (Penis) liegen im Schwanz und können mit Hilfe von zwei Schwellkörpern aus der Kloake ausgestülpt werden; der erigierte Penis einer männlichen Landschildkröte von z.B. 20 cm gestreckter Carapaxlänge kann dabei durchaus 8 cm lang sein – bei anderen adulten Arten kann der Penis fast die Länge des Bauchpanzers erreichen (Naish 2012). Fehlt der Schwanz und damit der Penis, wird das Männchen unter Umständen dennoch versuchen, mit einem Weibchen zu kopulieren. Verständlicherweise ist dieses Unterfangen von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil ein Männchen ohne Schwanz und Schwanznagel die Kloake des Weibchens nicht ertasten und es somit nicht begatten kann und sein verzweifeltes Bemühen letztendlich wieder einstellt - oder das Weibchen durch eine gesteigerte Aggressivität durch Bissattacken verletzt.

Fehlen Schwanz und Kloake, eignet sich das Tier natürlich nicht zur Zucht, so wie dies ja auch bei einer chirurgischen Absetzung des Penis bei einem wiederholten Penisvorfall (Penisprolaps) der Fall ist.

Die Harnausscheidung von Männchen mit fehlendem Schwanz ist dagegen nicht beeinträchtigt, weil die bei Landschildkröten nicht über den Penis erfolgt.

Ich gehe davon aus, dass Ihr schwanzloser Schlüpfling keine weiteren „Fehler“ bzw. Krankheitssymptome besitzt. Mein Rat: ziehen Sie das Tier in diesem Fall groß und verkaufen Sie es zum reduzierten Preis an einen Liebhaber, der nur eine Schildkröte besitzen möchte. Natürlich müssen Sie den Käufer auf den Mangel hinweisen. Mein weiterer Vorschlag wäre, dass Sie das bald geschlechtsreife Weibchen aus 2009 zunächst weiterhin in der Gruppe halten, aber darauf achten, dass es von den Männchen nicht bedrängt wird. Gegebenenfalls müssen Sie es isolieren, nur mit anderen Weibchen zusammen halten oder abgeben. Sollte es zu einer Verpaarung kommen, dann sollten Sie rechtzeitig vor der Eiablage einen schildkrötenerfahrenen Tierarzt konsultieren, damit es nicht zu einer Legenot oder zu anderen Problemen kommt.

Wenn ein durch das Fehlen des Schwanzes missgestalteter Schlüpfling noch andere schwerwiegende Defekte aufweist, dann sollte er meiner Meinung nach zur Vermeidung von Leid nach Rücksprache mit einem reptilienerfahrenen Tierarzt eingeschläfert und nicht hochgepäppelt werden.

 

Literatur:

Darren Naish (2012): Terrifying sex organs of male turtles. Tetrapod Zoology, http://blogs.scientificamerican.com/tetropod-zoology

Gunda Meyer de Rojas (2016): pers. Mitteilung an den Autor vom 10. September 2016

Bernd Pitzer (2016): pers. Mitteilung an den Autor vom 6. September 2016

 

Dieser Beitrag wurde am 1. November 2016 online gestellt.