Einleitung
Landschildkröten benötigen zu ihrem Wohlbefinden neben artgerechter Ernährung, Wärme und Helligkeit auch eine bestimmte Menge von auf die Haut wirkender UV-B-Strahlung, die ihnen in der freien Natur durch die Sonne in ausreichender Menge fast das ganze Schildkrötenjahr über zur Verfügung steht, die Zeit der Winterruhe ausgenommen. Bei einer Innenhaltung von Schildkröten, beispielsweise während der Übergangsperioden im Frühjahr und im Herbst, aber auch in Gewächshäusern aus Glas (die UV-B nicht durchlassen), müssen zur UV-B-Versorgung deswegen entsprechende UV-Speziallampen eingesetzt werden. Erst durch die UV-B-Strahlung können Schildkröten für ihren Knochenstoffwechsel das essentielle Vitamin D3 aus dessen Vorstufen in der Nahrung bilden: die Fachbezeichnung für diesen körpereigenen Vorgang ist Vitamin D3-Synthese. Nur dann können die Tiere die Elemente Kalzium und Phosphor in der notwendigen Menge aus dem Nahrungsbrei im Darm aufnehmen, was wiederum die Voraussetzung für einen funktionierenden Kalziumhaushalt und damit für ein ungestörtes Knochenwachstum ist. Wenn die UV-B-Strahlung fehlt, nützt auch ein über das Futter erreichter Kalzium- und Vitamin D3-Überschuss nicht sehr viel.
Weitgehend unbekannt war bis jetzt, wie viel UV-B eine europäische Landschildkröte benötigt oder, besser gesagt, durch die Sonnenstrahlung tatsächlich erhält. Es gab dazu bisher nur sehr grobe und unsichere Abschätzungen. Meine Beobachtungen im Terrarium und vor allem entsprechende UV-Strahlungsmessungen in Schildkröten-Biotopen machen es jedoch möglich, „Licht in das Dunkel“ zu bringen. Dazu war es unter anderem nötig, jeden Tag einer anderen wild lebenden Schildkröte möglichst viele Stunden lang unbemerkt zu folgen und genau zu messen und zu protokollieren, wie lange und bei welcher UV-B-Strahlungsintensität sie bei ihren Wanderungen und Ruhepausen von der Sonne bestrahlt wird.
1. Prolog: einige Behauptungen - sind sie wahr oder falsch ?
- Solange die Sonne stark blendet, gibt sie auch viel UV-B ab (Bild 1).
- Ist die Sonne von Wolken bedeckt, kommt auch kein UV-B mehr am Boden an.
- Die UV-B-Intensität ist mittags immer höher als am Vormittag oder am Nachmittag.
- In Deutschland reichen im Sommer zur Mittagszeit nur 6 Minuten Sonnenbestrahlung aus, um den Tagesbedarf einer Schildkröte an Vitamin D3 zu decken.
- Eine UV-Spezialleuchtstoffröhre mit 7 % UV-B emittiert mehr UV-B als eine mit 5 %.
- Ich habe mir eine UV-Lampe angeschafft, die sogar noch mehr UV-B als die Sonne abgibt. Damit tue ich meinen Schildkröten nur Gutes.
- Meine UV-Lampe hat die gleiche UV-B-Intensität wie die Sonne; deshalb ist die Vitamin D3-Synthese bei meinen Reptilien genau so wie im Biotop.
- Die Osram-Lampe Ultra-Vitalux ist das Nonplusultra in der UV-Schildkrötenbestrahlung
- Mein Reptilien-Spotstrahler für 10 € aus dem Zoohandel gibt ausreichend UV-B ab.
Die Liste derartiger Aussagen könnte noch verlängert werden. Was sie gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass sie, zumindest in obiger verallgemeinender Formulierung, allesamt unzutreffend sind, d.h. mit einem Nein zu beantworten sind, auch die Aussage zur Osram-Lampe Ultra-Vitalux. Ehrlich: hätten Sie es so gesehen? Dies zeigt, dass die Thematik nicht einfach zu verstehen ist. Davon zeugen die zahlreichen Falschinformationen speziell auf diesem Gebiet im Fachhandel und sogar auch durch so manchen Lampenhersteller, wobei in den letzten beiden Jahren zum Glück in der Kundeninformation eine Wende zum Besseren beobachtet werden kann. Mein persönlicher Eindruck ist aber nach wie vor: nirgendwo anders wird so viel Halbwissen verbreitet wie auf diesem Gebiet, meist im Internet, aber auch in Fachbüchern. Obwohl ich auf eine Ingenieurausbildung und eine 40-jährige Berufspraxis verweisen kann, musste ich mich einige Monate lang intensiv mit Optik und speziell der Lichttechnik befassen, um zwischen Wahrem und Unwahrem bei den Werbeaussagen für die zahlreichen Wärme- und UV-B-Lampen unterscheiden zu können. Doch allein theoretisches Hintergrundwissen genügt meiner Meinung nach nicht: geht es um die UV-B-Versorgung von Landschildkröten, darf das genaue Studium der Verhältnisse in der Natur, speziell in den Herkunftsgebieten der Schildkröten, keinesfalls fehlen, ja, dies ist sogar das Allerwichtigste. Dies schließt entsprechende Untersuchungen vor Ort ein. Aber wie viele Schildkrötenfreunde gibt es denn, die die im Süden Europas gelegenen Schildkrötenländer mit Lichtmessgeräten, wie z.B. einem UV-B-Radiometer, bereisen? Wer unterzieht sich schon der Anstrengung, einer bestimmten Schildkröte mehrere Stunden lang messend und beobachtend und protokollierend durch "Dick und Dünn" zu folgen? Allenfalls wird doch meist nur der Fotoapparat mitgenommen mit dem Ziel, möglichst viele Schildkröten zu fotografieren...
Bild 1: Sonnenuntergang am Indischen Ozean Ende Januar um 18.45 Uhr Ortszeit im örtlichen Sommer, wenige Minuten bevor schlagartig die tropische Nacht einsetzt. Die Sonnenstrahlung besteht aus einem Gemisch zahlreicher Strahlungswellen mit unterschiedlichen Strahlungsintensitäten bzw. -Frequenzen. Obwohl die Sonne selbst zu diesem späten Zeitpunkt noch stark blendete und wärmte (Temperatur ca. 30 °C), ergab eine Strahlungsmessung, dass ihr Licht praktisch kein UV-B mehr enthält: dieser Teil der Strahlung wurde nämlich bei dem sehr tiefen Stand der Abendsonne beim entsprechend weiten Weg durch die Erdatmosphäre bis zum Boden fast ganz absorbiert. Es ist also nicht zwangsläufig so, dass eine noch strahlend helle Sonne immer auch eine entsprechend hohe UV-B-Intensität am Boden erzeugt. Aufnahme vom Verfasser am Strand von Sansibar bei 6 Grad südllicher Breite.
So allgemeinverständlich wie möglich möchte ich in dieser Artikelserie versuchen, die besondere Thematik, über die es meines Wissens bisher kein entsprechendes Buch und auch keinen vergleichbar umfassenden Fachartikel in einer Fachzeitschrift gibt (schon gleich gar nicht mit Blick auf die Pflege von Landschildkröten), Schritt für Schritt aufzuarbeiten. Die dafür gewählte Veröffentlichungsform (Artikel in mehreren Folgen) und die Publikation in dieser Website hat gegenüber einem im Umfang zwangsläufig immer sehr begrenzten ein- oder höchstens zweiteiligen Zeitschriftenaufsatz weitere Vorteile, wie z.B. eine stufenweise Heranführung an die Thematik und die Möglichkeit, aufgrund von Lesererfahrungen oder auch neuerer eigener Erkenntnisse auch noch zu einem späteren Zeitpunkt frühere Kapitel oder Textabschnitte zu ergänzen, zu korrigieren oder zu kommentieren. Es lohnt sich also durchaus, gelegentlich nochmals die ersten und damit früheren Kapitel dieser Abhandlung durchzulesen. Außerdem kann der Beitrag in seinen wesentlichen Teilen sofort präsentiert werden, während man als Fachautor auf die Veröffentlichung seiner Arbeit in einer Fachzeitschrift oft ein volles Jahr warten muss.