Mitunter leisten nicht nur Biologen und Herpetologen durch ihre Forschungen im Biotop wichtige Beiträge zum Verständnis der Lebensweisen frei lebender Landschildkröten, sondern auch Angehörige anderer Disziplinen, wie im vorliegenden Fall Ökologen. Ein brasilianisches Forscherteam aus Sao Paulo, Manaus und Brasilia ging in der hier rezensierten Publikation der Frage nach, wie bedeutend Landschildkröten bei der Verbreitung von Samen sind. Bisher ging man davon aus, dass dafür primär nur Vögel und Säugetiere verantwortlich sind.
Wie kann man aber eine derart komplexe Aufgabe lösen? Nun, man muss zunächst wissen, wie viele Schildkröten auf einer bestimmten Fläche leben, von was sie sich dort ernähren, wie viele Samen mit dem Futter aufgenommen werden und welche Größe diese Samen haben, wie lange die Darmpassagezeit des Futters mit den Samen ist, wie viel Prozent der Samen bei Nahrungsaufnahme und Verdauung zerstört werden (dieser Prozentsatz ist bei Landschildkröten äußerst gering), wie oft am Tag die Tiere Kot ausscheiden und welche Strecken sie in ihrem Verbreitungsgebiet im Durchschnitt zurücklegen.


Die Forscher entschieden sich für die heimische (südamerikanische) Waldschildkröte, Chelonoidis denticulata und für ein von Indianern dünn besiedeltes Untersuchungsgebiet nahe der Stadt A'Ukre bei 7°41' Süd / 51°52' West, einem Übergangsgebiet zwischen feuchten amazonischen Waldgebieten und dem zentralbrasilianischen Becken. Die Tiere werden nach Angabe der Autoren durchschnittlich zwischen 30 und 40 cm groß, in der Literatur wird sogar eine Endgröße extrem großer Exemplare von 70 cm genannt.
Zunächst wurden sechs Schildkröten 30 Tage lang in einem eingegrenzten Gehege gehalten. Alle zwei bis drei Stunden wurden alle Kotausscheidungen eingesammelt und genau nach enthaltener Samenart, Zahl und Größe untersucht. Als Futter erhielten die Tiere nur die Pflanzen, Früchte und Pilze, die ihnen in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet zur Verfügung stehen. Alle vier Tage bekamen sie einen Brei aus Papaya und Bananen, der mit jeweils unterschiedlichen Samen präpariert war. Damit waren die Forscher in der Lage, die Samen-Darmpassagezeit (sie ergab sich zu 3 bis 17 Tage) und die Zahl und Größe der ausgeschiedenen intakten Samen zu ermitteln. Die Samengröße schwankte zwischen 1,5 mm Länge (Samen kleinwüchsiger Ficus-Arten) bis hin zu fast 40 mm (Samen der Palme Attalea maripa). Die mittlere Kotausscheidungsrate je Schildkröte wurde zu 1,5 je Tag ermittelt.
Um die Bewegungsradien der Tiere zu ermitteln, wurden 18 weitere adulte C. denticulata ausgewählt. Ein Teil von ihnen erhielt einen Minisender, die anderen kleine Faden-Abrollspulen. Damit konnten die jeweiligen Aufenthaltsorte und die Laufstrecken aller im Versuch eingesetzten Tiere ermittelt werden. Eines der Ergebnisse war, dass die Waldschildkröten die Samen in der trockenen Jahreszeit durchschnittlich 174 m weit von der Stelle entfernt, an der sie das Futter aufnahmen, ausscheiden, in der Regensaison waren es 277 m.


Fazit: Eine Zählung der Individuenzahl von C. deniculata im Untersuchungsgebiet bei A'Ukre ergab 25 bis 31 Tiere je km2. Mit den anderen ermittelten Basisdaten errechneten die Forscher, dass die Waldschildkrötenpopulation zwischen 480.000 und 595.000 keimfähige Samen ganz unterschiedlicher Größe je km2 und Jahr verbreitet. Dies ist deutlich mehr als bisher angenommen wurde, vor allem weil die Waldschildkröten neben kleineren auch größere Samen als z.B. Vögel oder Primaten verbreiten können. Ein wesentlicher Faktor ist auch die relativ lange Darmpassagezeit von Schildkröten, die bei Vögeln und Säugetieren selten länger als 24 Stunden ist. Ökologisch von Bedeutung ist ferner, so die Forscher, dass die Waldschildkröten ihren Kot relativ weit vom Futter-Aufnahmeort ausscheiden, sehr oft im dichten Unterholz, wo die Samen viel besser keimen können als nahe an der Mutterpflanze.

 

Referierte Literatur:
Jerozolimski Adriano, Ribeiro Maria Beatriz und Martins Marcio (2009): Are tortoises important seed dispersers in Amazonian forests? Oecologia, Springer, 161, S. 517-528

Horst Köhler

 

Der Beitrag wurde am 16. Mai 2010 online gestellt.