Frage: Ich habe seit 1997 ein Freigehege, unter anderem mit zwei männlichen Maurischen Schildkröten, Felix und Tiger. Sie fühlen sich wohl, nur ist leider bei unserem Felix seit 1999 der Panzer nicht mehr mitgewachsen. Ich habe bei einen Tierarzt, bei mehreren Foren und auch im Frankfurter Zoo nachgefragt, leider konnte mir niemand helfen. Im Anhang sende ich Ihnen einige Bilder (eines davon wird hier gezeigt), damit Sie sich ein Bild machen können. Was ist Ihre Meinung?
H. J. (per Email)
Antwort: Das hier gezeigte Foto ist nun wirklich kein schönes Bild, aber auch solche Aufnahmen müssen aus dokumentarischen Gründen auf dieser Website erlaubt sein. Noch vor einigen Jahren hätte ich das Aussehen dieser Maurischen Landschildkröte (Testudo graeca) - aus heutiger Sicht voreiligerweise - vielleicht einer Fehlernährung oder anderen Haltungsfehlern zugeschrieben. Sicherlich dürften die meisten erfahrenen Schildkrötenhalter und -Experten auch heute noch spontan zu einer ganz ähnlichen Aussage neigen und die Schuld dem Halter zuschieben.
Doch so einfach ist der Fall zumindest hier nicht, denn Ihre anderen Schildkröten wachsen schließlich normal und werden in der warmen Jahreszeit in einem großen Freigehege im Garten gehalten. Damit erhalten sie automatisch auch ausreichend natürliche UVB-Strahlung durch die Sonne. Zusammen mit der Verfütterung von frischem calciumhaltigem Grünfutter sind somit eigentlich alle Voraussetzungen für eine wirksame Vitamin D3-Synthese und damit für ein gutes Wachstum mit normalem Knochenbau gegeben.
Und selbst wenn Ihre Tiere in den Wochen der Übergangszeiten vor und nach der Winterruhe im Innengehege nicht mit UVB bestrahlt werden sollten, ist eine derartige Panzerentwicklung, wie sie auf diesem Bild zu sehen ist, unwahrscheinlich. Schließlich erhalten wild lebende Landschildkröten in ihren Verstecken in diesen Zeiten auch nur ein Minimum an UVB-Strahlung (kurze Sonnenscheindauer, niedriger Sonnenstand im Winter, damit geringe UVB-Intensität am Boden). Ganz abgesehen davon ergibt sich aus Messungen in der Natur keine Notwendigkeit einer intensiven UVB-Bestrahlung von Landschildkröten mittels starker Strahler, wie dies manchmal zu sehen ist: Auch im Sommer ist sogar an einem wolkenlosen Tag im Mikrohabitat unserer Lieblinge in Südeuropa die empfangene UVB-Tagesdosis überraschend gering, und im Winter geht sie sogar gegen Null (siehe Rubrik "UVB-Fachartikel" dieser Website).
Was könnte dann aber diesen auffälligen Carapaxdefekt bewirkt haben? Nun, es gibt mehrere mögliche Ursachen dafür (ich danke an dieser Stelle Herrn H.-J. Bidmon für seine wertvollen Hinweise in dieser Angelegenheit). Vorstellbar wäre zunächst, dass aufgrund einer Darmschädigung (hervorgerufen beispielsweise durch einen massiven Befall mit Würmern, deren Larven die Darmwand durchbohren) die Kalziumaufnahme gestört ist. Zweitens, durch eine eingeschränkte Nieren- und/oder Leberfunktion könnte es dazu kommen, dass die biologisch aktive Form des Vitamins D3 im Körper (Calcitriol) nicht mehr, oder nicht im ausreichenden Maße, produziert wird. Schließlich kann auch eine virale Infektion eine Deminerailisierung und damit einen Stopp des Panzerwachstums zur Folge haben. Und, viertens, können auch genetische Effekte nicht ganz ausgeschlossen werden.
Unter Umständen nützt damit weder eine noch so kräftige UVB-Bestrahlung, noch eine (nicht ganz ungefährliche !) Zufütterung von Vitamin D3. Wenn das mit dem Futter zugeführte Calcium vom Körper nicht mehr verwertet werden kann, wird der Organismus das Calcium aus dem Knochengerüst ziehen. Dann stagniert logischerweise das Knochenwachstum, der Panzer wird eventuell weich, während Arme und Beine weiter an Umfang und Masse zunehmen und, wie das Foto zeigt, aus einem zu klein gewordenen Panzer herausquellen. Im weiteren Krankheitsgeschehen kann es zu einer massiven Erweichung des Panzers, zu seiner Absenkung (Flachpanzer) und sogar zu einem Knick in der Wirbelsäule kommen. Letzteres ist gut zu erkennen, wenn man von oben auf die Schildkröte blickt.
Was ich Ihnen raten würde? Sie schreiben, dass sich Ihr "Felix" wohl fühlt. Kann er seinen Körper noch vom Boden abheben? Wenn ich mir das hier gezeigte Bild ansehe, kommen mir gewisse Zweifel. ..Wenn aber Ihre Schildkröte tatsächlich noch problemfrei laufen und fressen kann und wenn (noch ?) keine Knochenerweichung vorliegt, dann sollten Sie das Tier weiterhin gut versorgen und umsorgen, nach Rücksprache mit einem wirklich erfahrenen Reptilienarzt, vor allem auch mit Mineralien und Vitamin D3 (vermutlich würde eine Untersuchung von Kot, Harn und Blut die wahrscheinliche Ursache einkreisen). Wenn allerdings der Panzer trotz aller Maßnahmen weicher werden sollte, das Tier nicht mehr richtig läuft, offensichtlich Schmerzen beim Fressen hat und/oder das Futter ganz verweigert, dann sollten Sie mit Ihrem Tierarzt außer der Möglichkeit der Zwangsfütterung auch die Option einer Euthanasie der Schildkröte in Erwägung ziehen. Letzteres ist natürlich keine sehr schöne Maßnahme für Sie als besorgten Schildkröten-Liebhaber, aber für ein krankes, deutlich geplagtes Tier letztendlich doch eine Erlösung.
Horst Köhler (20. November 2011)